So lebst du wirklich länger
Im Jahr 2013 fanden Wissenschaftler aus Harvard DAS Wundermittel für ein längeres Leben. Es war nur nicht das, was sich medial verbreitete. Aber was denn dann?
Die Nuss-Studie aus Harvard
2013 veröffentlichte ein Forschungsteam um Ying Bao im New England Journal of Medicine eine Studie, die Schlagzeilen machte. Über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden über drei Jahrzehnte hinweg zu ihrer Ernährung befragt. Das Forschungsteam wollte wissen: Hat der Verzehr von Nüssen einen Einfluss auf die Sterblichkeit?
Das Ergebnis: Ja, und zwar einen statistisch deutlichen. Wer täglich Nüsse aß – rund eine Handvoll pro Tag – hatte ein um 20 % geringeres Risiko, im Beobachtungszeitraum zu sterben. Besonders deutlich war dieser Effekt bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Sterblichkeit um 29 % reduziert war, gefolgt von Krebserkrankungen mit 11 % geringerer Mortalität. Zudem nahmen Vielesser trotz des hohen Kaloriengehalts der Nüsse weniger an Gewicht zu als Nussabstinente.
Der Zusammenhang war dosisabhängig: Je häufiger der Nussverzehr, desto niedriger das Sterberisiko. Die Autoren vermuteten: Die hohe Nährstoffdichte von Nüssen – insbesondere ungesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe, Vitamine und Magnesium – könnte Schutzfunktionen für Herz und Stoffwechsel entfalten.
Doch so beeindruckend die Ergebnisse waren – sie sind kein Beweis für Kausalität. Beobachtungsstudien können Zusammenhänge zeigen, aber sie können nicht sagen, was Ursache und was Begleitfaktor ist. Man kann zwar, wie im vorliegenden Fall, versuchen, Störfaktoren zu berechnen, man kann sie aber nur schwerlich ausschließen. Und genau hier beginnt das Missverständnis.
Was in den Medien verloren ging
Die mediale Rezeption ließ nicht lange auf sich warten. „Iss Nüsse, lebe länger“ titelte der Tagesspiegel. CNN, NPR, The Guardian und viele andere formulierten ähnlich. Die Botschaft war klar, aber vereinfachend: Eine Handvoll Nüsse pro Tag = ein längeres Leben.
Was dabei oft unterging, war der entscheidende Hinweis, dass die Studie keine Ursache-Wirkung-Beziehung belegen konnte. Wer täglich Nüsse isst, lebt möglicherweise nicht länger wegen der Nüsse – sondern lebt länger, und isst eben auch Nüsse. Die Medien aber transportierten eine Art Gesundheitsformel, was zu groben Fehlschlüssen führte. Das Laborjournal persiflierte diese Tendenz treffend: „Zwölf Haselnüsse am Tag ergeben zwölf Jahre mehr Leben“ – ein Beispiel für die absurde Simplifizierung komplexer Daten.
Auch in der Fachwelt gab es Kritik: Nüsse könnten schlicht ein Marker für einen insgesamt gesünderen Lebensstil sein. Zudem sind Nüsse ein tendenziell hochpreisiges Produkt, das sich nicht alle Schichten gleichermaßen leisteten. Wer sich mehr Nüsse leisten konnte, gehörte tendenziell einer privilegierteren Schicht an. Die Studie hatte, so die Einschätzung zahlreicher Experten, über Bande einen Zusammenhang aus dem sozialen Status und der Lebenserwartung belegt. Die Nuss war lediglich ein Indikator für ebendiesen.
Eine Frage des Lebensstils
Nüsse essen ist nicht nur eine Gesundheitsentscheidung – es ist auch ein sozialer Code. Die Daten der Bao-Studie zeigten: Wer regelmäßig Nüsse aß, war in vielerlei Hinsicht besser gestellt. Sie rauchten weniger, waren körperlich aktiver, tranken häufiger – aber kontrollierter und hochwertiger – Alkohol, waren seltener gestresst und hatten einen niedrigeren BMI. Sie gehörten zur gehobenen Mittelklasse oder oberen Bildungsschicht. Der soziale Status bedingte dabei den lebensverlängernden Lebensstil maßgeblich.
NEJM verwies zudem darauf, dass Nusskonsum oft in einem sozialen Kontext steht – etwa als Bar-Snack beim Weintasting oder als Bestandteil bewusster Ernährungsstile der oberen sozialen Schichten. Dies verweist auf den sogenannten „Cocktailparty-Effekt“: Wer in sozialen Kreisen lebt, in denen gesundheitsbewusstes Verhalten Standard ist, profitiert auch davon. Wenn das Umfeld zu hochpreisigen Snacks greift, tut man das ebenso. Nicht die Nuss verlängert das Leben – sondern ein Einkommen, das den regelmäßigen Verzehr selbstverständlich macht und das entsprechende soziale Umfeld. Aber warum eigentlich?
Warum Reiche länger leben
Die Wissenschaft ist sich einig: Menschen mit höherem sozioökonomischen Status leben nicht nur gesünder – sie leben signifikant länger. Und das aus einer Vielzahl von Gründen.
Zunächst haben Besserverdienende leichteren Zugang zur medizinischen Versorgung. Sie erhalten schneller Termine, nehmen häufiger Vorsorgeangebote wahr und können sich modernere, spezialisierte Behandlungen leisten. Eine US-weite Analyse zeigt, dass schlechter Zugang zu Gesundheitsleistungen einer der Hauptgründe für die wachsende Sterblichkeitskluft seit den 2000er-Jahren ist (McMaughan et al., 2020).
Zudem essen Besserverdienende gesünder – nicht nur aus Tugend, sondern aus Möglichkeit. Gesunde Lebensmittel wie frisches Obst, Fisch, Nüsse oder Vollkorn sind oft teurer, zeitaufwendiger und schwerer zugänglich. Studien wie jene von Nisa & Kurotani (2023) belegen: Personen mit niedrigerem Einkommen weisen einen deutlich schlechteren Ernährungsqualitätsindex auf.
Ein unterschätzter, aber entscheidender Faktor ist Stress. Menschen in niedrigeren sozialen Lagen erleben häufiger chronische Unsicherheit, Leistungsdruck, geringe Autonomie – Faktoren, die mit erhöhter allostatischer Belastung, Bluthochdruck und Herzkrankheiten verbunden sind. Die Whitehall-Studien belegten: Selbst bei identischer medizinischer Versorgung starben Arbeitnehmer in niedrigeren Diensträngen häufiger – nicht wegen schlechterer Medizin, sondern wegen schlechterer Arbeitsbedingungen und höherer psychischer Belastung. Mit dem Blick auf den Abgrund lebt es sich gefährlich.
Hinzu kommen Wohnumfeld und Umweltfaktoren: Arme Viertel haben schlechtere Luft, weniger Grünflächen, mehr Lärm. Eine Auswertung von 13,2 Millionen US-Senioren zeigte, dass Menschen mit niedrigem SES signifikant empfindlicher auf Luftverschmutzung reagieren – ihre Sterblichkeit steigt messbar schneller.
Warum leben Arme nicht einfach auch so?
Die häufige Frage „Warum machen Arme es nicht wie Reiche?“ ist falsch gestellt. Denn sie setzt voraus, dass gesunde Lebensweise eine bloße Willensentscheidung sei. Doch Gesundheit ist kein bloßes Verhalten, sondern ein Ergebnis von Bedingungen.
Das beginnt bei der Ernährung. Studien aus Lateinamerika und den USA belegen: Menschen mit geringem Einkommen essen signifikant schlechter – und zwar nicht primär, weil sie uninformiert wären, sondern weil es ihnen an Ressourcen wie Zeit und Geld fehlt (Nisa & Kurotani, 2023).
Ähnlich verhält es sich mit Bewegung. Wer in einem schlecht bezahlten Job arbeitet, im Schichtsystem steckt oder mehrere Jobs parallel ausübt, hat keine Zeit für Sport. Auch Alleinerziehende oder prekär Beschäftigte können sich im Alltag selten Zeit körperliche Ertüchtigung freischaufeln. Fitnessstudios kosten Geld, Parks fehlen, Straßen in sozialen Brennpunkten sind unsicher.
Auch die medizinische Versorgung ist eingeschränkt. Zwar gibt es in vielen Ländern ein Mindestmaß an Absicherung, aber die Hürden sind hoch: lange Wartezeiten, Sprachbarrieren, Misstrauen gegenüber Institutionen. Studien (McMaughan et al., 2020) zeigen, dass Geringverdiener deutlich seltener präventive Leistungen nutzen und häufiger mit unbehandelten Erkrankungen leben.
Psychisch kommt der Dauerstress hinzu: Existenzängste, Mehrfachbelastung, fehlende Absicherung. Die WHO und ILO haben nachgewiesen, dass Menschen, die in ihrem Alltag aufgrund existenzieller Nöte hohem Stress ausgesetzt sind, ein drastisch höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen tragen.
Häufig gehen sie körperlich anstrengenden Tätigkeiten nach wie beispielsweise in der Logistik, auf Baustellen, in Reinigungsbetrieben nach, bei denen man Schadstoffen ausgesetzt ist. Zudem münden diese Lebenswege häufig in verschleißbedingter Altersarmut. Studien zufolge verkürzt dies messbar die Lebenserwartung.
Erholung? Urlaub? Soziale Teilhabe? Für viele Menschen mit geringem Einkommen ist das keine Option. Wer sich krankmeldet, verliert mitunter Einkommen oder den Job. Wer keinen Urlaub macht und wenig an gesellschaftlichen Aktivitäten partizipiert, regeneriert nicht – und stirbt nachweislich früher. Studien belegen: Menschen, die auf Urlaub und Freizeitaktivitäten verzichten, haben eine höhere Herzinfarktrate.
Auch die Bildungsunterschiede zwischen sozialen Schichten verstärkt diese Gefahr. Wer nicht versteht, was Symptome bedeuten oder was medizinische Empfehlungen fordern, ist schlechter versorgt – ganz gleich, ob er Zugang zum Arzt hat oder nicht.
Die Idee, dass man sich aus der Armut „herausleben“ könnte – einfach mit mehr Nüssen, Jogging und Achtsamkeit –, ist naiv. Es ignoriert strukturelle Barrieren und Belastungen. Wer arm ist, lebt kürzer – nicht, weil er alles falsch macht, sondern weil das System es ihm schwerer macht, etwas richtig zu machen.
Aber sind Nüsse jetzt wirklich gesund?
Ja – Nüsse gelten aus ernährungswissenschaftlicher Sicht als gesund. Sie liefern eine dichte Kombination aus ungesättigten Fettsäuren, pflanzlichem Eiweiß, Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen wie Magnesium sowie sekundären Pflanzenstoffen mit antioxidativer Wirkung. Zahlreiche Studien belegen, dass regelmäßiger Nusskonsum mit einem geringeren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, günstigeren Cholesterinwerten und geringerer Entzündungsaktivität verbunden ist.
Auch beim Thema Gewicht zeigt sich ein überraschendes Bild: Trotz ihres hohen Kaloriengehalts führen Nüsse nicht zu einer erhöhten Gewichtszunahme – im Gegenteil. Langzeitstudien wie die von Bao et al. deuten darauf hin, dass Vielesser sogar schlanker bleiben. Die Gründe könnten in der hohen Sättigung, dem geringeren Heißhunger und der unvollständigen Fettaufnahme im Darm liegen.
Trotzdem sind Nüsse kein Wundermittel. Ihre gesundheitlichen Vorteile entfalten sich nicht isoliert, sondern im Kontext eines insgesamt ausgewogenen Lebensstils. Überhöhter Konsum, stark gesalzene oder industriell verarbeitete Varianten sowie die Vorstellung, man könne sich durch Nüsse „freikaufen“ von Bewegungsmangel oder Dauerstress, verfehlen die Realität. Wer regelmäßig Nüsse isst, tut seinem Körper wahrscheinlich Gutes – aber nur dann, wenn der Rest des Lebensstils auch stimmt.
Und was ist jetzt das versprochene Geheimrezept für ein längeres Leben? Nun, sei nicht arm.
Wer wirklich will, dass mehr Menschen länger leben, braucht keine Superfoods – sondern soziale Fairness. Denn gesundes Leben ist nicht nur eine Frage der Ernährung. Es ist eine Frage der Möglichkeiten.