"Ich bin die Hebamme in den Tod" - Sterbebegleiterin im Interview
Der intensivste Text, den Du heute lesen wirst! Sterbebegleiterin Dr. Erika Preisig spricht über letzte Wünsche, ethische Grenzen und ihre Rolle als Hebamme am Lebensende.
Triggerwarnung: Der Text enthält Beschreibungen zu den Themen Suizid, Krankheit und Tod, die verstörend wirken können.
Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen.
Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111(kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter telefonseelsorge.de an.
In der Schweiz begleitet Dr. Erika Preisig seit Jahrzehnten Menschen in den selbstgewählten Tod – aus Überzeugung, mit medizinischer Sorgfalt und klarer Haltung. Aber wie läuft ein Freitod ab? Wie geht sie mit ethischen Herausforderungen um? Und was kostet das eigentlich? Das hat sie mir in einem eindrücklichen Gespräch verraten.
Just Sad Stories: Frau Dr. Preisig, Sie setzen sich seit vielen Jahren öffentlich für das Recht auf Sterbebegleitung ein. Gab es einen Schlüsselmoment, der Sie zu diesem Engagement bewegt hat?
Dr. Preisig: Ja, den gab es. Ich war 21 Jahre lang als Hausärztin ausschließlich in der Palliativmedizin tätig. Meine Patientinnen und Patienten sind fast alle zu Hause verstorben – mit Unterstützung eines sehr guten mobilen Palliativ-Teams. In dieser Zeit habe ich viele Sterbeprozesse begleitet. Und ich habe auch Momente gesehen, in denen Palliativmedizin an ihre Grenzen stößt – so sehr, dass es einem manchmal selbst Angst macht.
Just Sad Stories: Welche Momente sind das?
Dr. Preisig: Ein Schlüsselmoment war der Suizidversuch meines Vaters. Er hatte nach einem zweiten Schlaganfall seine Sprache verloren, obwohl sich seine Halbseitenlähmung kaum verschlechtert hatte. Aber dass er nicht mehr sprechen konnte, war für ihn unerträglich – er war ein sehr kommunikativer und geselliger Mensch. Eines Tages hat er bei mir zu Hause versucht, sich mit allen verfügbaren Medikamenten das Leben zu nehmen. Er schlief drei Tage lang, wachte aber wieder auf – zum Glück hatte ich als Mutter von drei Teenagern keine gefährlichen Medikamente im Haus. Danach zeigte er im Bilderbuch auf eine Lokomotive und machte Würgebewegungen – es war eindeutig, dass er sich vor einen Zug werfen wollte.
Just Sad Stories: Wie sind Sie damit umgegangen?
Dr. Preisig: In diesem Moment wurde mir klar: Als Ärztin kann ich zwar Schwierigkeiten mit dem assistierten Suizid haben – aber ein Suizid vor einen Zug ist noch viel schlimmer. Ich sagte ihm, dass es in der Schweiz eine andere Möglichkeit gibt. Niemand sollte sich auf eine Art und Weise das Leben nehmen, die andere traumatisiert.
Als mein Vater dann – begleitet – das Medikament trank, seinen Kopf auf meine Schulter legte und einschlief, hat das sehr viel in mir ausgelöst. Ich fragte mich: Was tue ich da eigentlich? 21 Jahre lang habe ich ausschließlich Palliativmedizin gemacht, und ja, manchmal ist Sterben schwer. Warum also nicht auch andere Wege zulassen?
Das war mein Wendepunkt. Ich habe mich geöffnet für die Freitodbegleitung und dann sechs Jahre lang für Dignitas gearbeitet – eine Organisation, die auch Menschen aus dem Ausland begleitet. In dieser Zeit habe ich nichts Negatives an der Freitodbegleitung erlebt – mit einer Ausnahme: Dass so viele Menschen in die Schweiz reisen müssen, nur um in Würde sterben zu dürfen. Ich fand, das muss aufhören. Und es wird erst dann aufhören, wenn die Menschen das in ihrem eigenen Land tun dürfen.
Just Sad Stories: Wie viele Menschen begleiten Sie persönlich pro Jahr?
Dr. Preisig: Wir haben LifeCircle 2011 gegründet. Die Zahl der Begleitungen stieg innerhalb von drei Jahren schnell an – bis wir bei etwa 80 pro Jahr waren. An diesem Punkt habe ich bewusst gesagt: Stopp. Es ist nicht meine Aufgabe, möglichst viele Begleitungen durchzuführen. Meine Aufgabe ist es, mit der Organisation die Notwendigkeit aufzuzeigen und gleichzeitig Zeit für die politische Arbeit und internationale Aufklärung zu haben.
80 Fälle pro Jahr sind eigentlich schon zu viel. Als wir merkten, dass wir mehr als sechs Begleitungen pro Monat hatten, haben wir Menschen an andere Organisationen verwiesen. Dignitas oder auch Pegasos machen deutlich mehr – zum Teil über 250 pro Jahr. Das hätten wir auch gekonnt, aber das ist nicht das Ziel von LifeCircle.
Just Sad Stories: Welche Menschen kommen zu Ihnen?
Dr. Preisig: Sehr selbstbestimmte! Über 50 Prozent unserer Klientinnen und Klienten sind gut bis sehr gut gebildet – viele Akademiker. Sie haben ihr Leben eigenverantwortlich geführt und wollen das auch für ihr Lebensende.
Aber wir begleiten auch Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen – Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel. Was sie verbindet, ist, dass sie in ihrem Leben Verantwortung übernommen haben – für sich selbst und oft auch für andere. Und am Ende wollen sie ebenfalls selbst entscheiden. Autonomie ist ihnen wichtig.
Just Sad Stories: Mit welchen Erkrankungen kommen diese Menschen zu Ihnen?
Dr. Preisig: Wir haben dazu eine interne Auswertung gemacht: Rund 30 Prozent leiden an Krebserkrankungen, etwa 30 Prozent an neurologischen Erkrankungen wie Demenz, Parkinson oder Multiple Sklerose. Weitere 30 Prozent kommen wegen Altersfreitod – im Englischen spricht man von Old Age Rational Suicide. Das sind Menschen, die sagen: „Ich bin 90, kann kaum noch gehen, sehe und höre schlecht – ich habe mein Leben gelebt. Ich warte nur noch auf den Tod und möchte das abkürzen.“ In der Schweiz ist das kein Problem.
Just Sad Stories: Wie läuft dann eine solche Freitodbegleitung konkret ab?
Dr. Preisig: Zuerst muss ein Antrag gestellt werden – ein persönlicher Brief, in dem die Person beschreibt, warum sie sterben möchte, worunter sie leidet und wie dringend der Wunsch ist. Viele sagen: „So bald wie möglich“, weil sie austherapiert sind. Oft kommen die Menschen erst, wenn ihre Ärztin oder ihr Arzt sagt: „Wir können nichts mehr tun.“
Zusätzlich zum persönlichen Brief brauchen wir ein bis zwei ärztliche Berichte, die die Diagnose bestätigen, und – wenn möglich – eine Urteilsfähigkeitsbestätigung durch eine Ärztin, einen Psychiater oder einen Notar. Dann noch die Zivilstandsunterlagen, etwa die Geburtsurkunde – das ist vor allem für die Ausstellung der Todesurkunde bei ausländischen Personen wichtig.
Auf dieser Basis kann ich entscheiden, ob die Person in der Schweiz eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen darf. Das nennen wir das „grüne Licht“.
Just Sad Stories: Was bedeutet das?
Dr. Preisig: Es bedeutet: Der Notausgang ist da. Die Tür ist offen, falls es notwendig wird. Und genau dieses Wissen verändert etwas – viele leben danach mit weniger Angst vor unerträglichem Leiden. Ihre Lebensqualität verbessert sich, weil sie sich ihrer Krankheit weniger ausgeliefert fühlen.
Die Menschen fürchten sich nicht vor dem Tod, sondern vor dem Leiden. Und wenn sie wissen, dass sie im Notfall diese Tür gehen könnten, dann haben sie diese Angst nicht mehr. Das Interessante: Nur rund ein Drittel der Menschen, die das grüne Licht bekommen, nehmen die Freitodbegleitung am Ende auch tatsächlich in Anspruch. Zwei Drittel sterben eines natürlichen Todes – aber mit mehr Ruhe und besserer Lebensqualität.
Just Sad Stories: Und wenn ich mich dann dazu entscheide, mein Leben zu beenden, kommen zu mir nach Hause, und ich nehme ein entsprechendes Medikament ein – in Ihrer Anwesenheit. Ist das korrekt?
Dr. Preisig: Ja – wobei wir das in der Praxis fast nie oral machen. Die orale Einnahme ist sehr unangenehm: Das Medikament ist extrem bitter und verursacht ein starkes Brennen im Magen. Die Person schläft zwar meist innerhalb von ein bis drei Minuten ein – aber das Magenbrennen ist intensiv, und es ist ungewiss, wie lange es bis zum Tod dauert. Wenn Angehörige anwesend sind, ist das oft sehr belastend.
Deshalb arbeiten wir fast ausschließlich intravenös. Ich lege einen Zugang mit Kochsalzlösung. Die Person übt mit mir, wie sie die Infusion öffnet – da ist noch kein Medikament drin. Wenn sie das sicher kann, wird das Medikament in die Infusion gegeben. Ab dann darf nur noch die sterbewillige Person den Infusionshahn öffnen. Um nachzuweisen, dass die Entscheidung freiwillig und eigenständig war, filmen wir diesen Moment.
Ich stelle dabei vier Fragen: Wie heißen Sie? Wann sind Sie geboren? Warum haben Sie mich gebeten, zu kommen? Wissen Sie, was passiert, wenn Sie die Infusion öffnen?
Die Antworten und das Öffnen der Infusion sind im Video dokumentiert. Sobald die Infusion läuft, wird die Aufnahme gestoppt – das Einschlafen ist für die Behörden nicht relevant. Wichtig ist allein, dass die Person bewusst und selbstbestimmt gehandelt hat.
Just Sad Stories: Gibt es im Vorfeld auch Gespräche mit den Angehörigen?
Dr. Preisig: Ja, das ist mir sehr wichtig. Ich schätze Familiengespräche – das liegt sicher auch an meinem Hintergrund als Hausärztin. Es ist zentral, Angehörigen zu erklären, warum Loslassen wichtig sein kann. Die größte Sorge von Gegnern der Freitodbegleitung ist ja die mögliche Fremdbeeinflussung.
Ein Beispiel: Eine Mutter lebt im eigenen Haus, die Tochter mit Enkelin wohnt in der Nähe. Die Mutter wird pflegebedürftig, ein Pflegeheim kostet in der Schweiz etwa 10.000 Franken im Monat. Wenn das Haus verkauft werden müsste, um die Pflege zu bezahlen, entsteht schnell der Verdacht: Die Tochter möchte, dass die Mutter stirbt, damit sie das Haus bekommt. Das ist natürlich eine sehr heikle Dynamik – soziale Erwartung, unterschwelliger Druck.
Aber was ich in fast 20 Jahren Erfahrung beobachte: Es ist ausnahmslos umgekehrt. Die Sterbewilligen müssen sich regelrecht gegen ihre Angehörigen durchsetzen. Sie müssen ihren Wunsch erklären, rechtfertigen, verteidigen – oft über lange Zeit.
Just Sad Stories: Gibt es Fälle, in denen sich Menschen nach einem Familiengespräch gegen die Freitodbegleitung entscheiden?
Dr. Preisig: Ja, immer wieder. Ein Beispiel war eine Frau aus Deutschland, die schwer an COPD (Lungenerkrankung) erkrankt war. Sie lebte im Erdgeschoss, ihre Tochter mit zwei Enkeln direkt darüber. Sie wollte zur Freitodbegleitung nach Zürich reisen – ohne ihre Tochter zu informieren. Ich habe sie darauf angesprochen. Sie meinte nur, sie dürfe die Enkel nicht mehr betreuen und wisse nicht, warum. Ich habe sie dann gebeten, die Tochter anzurufen und ihr mitzuteilen, dass sie sterben wolle.
Die Tochter kam sofort nach Zürich. Wir führten ein sehr gutes Familiengespräch. Es stellte sich heraus: Die Tochter wollte ihre Mutter nur schonen – deshalb ließ sie die Enkel nicht mehr zu ihr. Die Mutter aber deutete das als Ablehnung und fühlte sich isoliert. Nach dem Gespräch war der Todeswunsch verschwunden. Die Familie reiste gemeinsam nach Hause zurück – und ich hatte noch lange Kontakt zu ihnen. Der Gesundheitszustand der Frau besserte sich sogar, vermutlich auch, weil sich ihr seelisches Umfeld verbessert hatte.
Just Sad Stories: Geben Ihnen solche Fälle zu denken? Also – ob es vielleicht auch andere gegeben hätte, bei denen ein tiefergehendes Gespräch oder psychologische Hilfe geholfen hätte?
Dr. Preisig: Nein. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel habe, verschiebe ich alles, nehme mir Zeit, warte ab. Ich würde sagen: Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich in den vergangenen 19 Jahren keinen falschen Entscheid getroffen – weil ich extrem vorsichtig bin. Ob das tatsächlich zu hundert Prozent stimmt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Menschen, die ich begleite, sind danach tot. Ich kann sie nicht mehr fragen. Ich kann nur mit den Angehörigen sprechen. Und gerade von ihnen erhalte ich sehr oft positiven Rückhalt – das ist es, was mir die Kraft gibt, diese Arbeit weiterzumachen.
Ich habe ganze Ordner voller Dankesbriefe – von Angehörigen und von den Sterbewilligen selbst, die sich im Vorfeld bedankt haben. Einer dieser Fälle war besonders herausfordernd: Die Tochter eines italienischen Mannes war strikt gegen seinen Wunsch zu sterben. Ich habe ihn über drei Jahre begleitet – und ihn in dieser Zeit immer wieder davon abgehalten, zu früh zu gehen.
Wenn jemand über drei Jahre hinweg einen konstanten Wunsch zum Sterben äußert, dann muss auch die Familie das irgendwann akzeptieren. Natürlich darf mir die Tochter einen Vorwurf machen – damit kann ich leben. Aber ich weiß, dass ich alles getan habe, um zu verhindern, dass ihr Vater zu früh stirbt.
Letztlich gilt: Wenn eine urteilsfähige Person ihren Wunsch klar und überlegt formuliert, dann hat sie das Recht, auch gegen den Willen der Angehörigen zu handeln.
Just Sad Stories: Was kostet eine Freitodbegleitung bei Ihnen?
Dr. Preisig: Für Ausländerinnen und Ausländer kostet die Begleitung bei uns 10.000 Euro. Der Grund ist: Der Aufwand ist enorm. Es ist sehr kompliziert, eine internationale Todesurkunde zu erhalten. Wenn jemand in der Schweiz stirbt, müssen wir als Organisation zusätzlich den kompletten Ablauf organisieren: Leichentransport, Kremation, Urne, Rückführung – all das übernehmen wir.
Wenn ich einen Schweizer begleite, als Ärztin und Privatperson, unabhängig von einer Organisation, kostet das etwa 1.600 Franken. Ich habe dann keinen Verwaltungsapparat im Hintergrund – keine Buchhaltung, keine Juristen, keine Absicherung bei möglichen Verfahren. Das macht einen großen Unterschied.
Just Sad Stories: Erwirtschaften Sie damit konkret Gewinn?
Dr. Preisig: Ja, selbstverständlich. Aber das ist bei jeder ärztlichen Tätigkeit so. Wenn ich Sie als Patient mit Diabetes behandle, verdiene ich auch Geld.
Just Sad Stories: Ja, aber genau da könnte man einwenden: Der Patient lebt – bei der Freitodbegleitung ist das anders. Sehen Sie darin kein ethisches Problem? Also, dass man am Sterbewunsch einer Person Geld verdient?
Dr. Preisig: Ich verstehe den Einwand – aber nein, ich sehe darin kein ethisches Problem. Unsere Organisation heißt LifeCircle, weil wir das Leben als Kreis verstehen. Wir kommen hilflos zur Welt – in Windeln, auf andere angewiesen. Wir erreichen einen Höhepunkt – gründen Familien, stehen im Leben – und irgendwann geht es wieder bergab. Am Ende sind viele wieder pflegebedürftig, auf Windeln angewiesen, im Heim.
Wenn wir die Hebamme am Lebensanfang bezahlen, warum nicht auch die Begleitung am Lebensende? Die Hebamme hilft beim Ankommen – ich helfe beim Gehen. Es ist dieselbe Art von Fürsorge – nur an einem anderen Punkt des Lebensbogens. Ich bin die Hebamme in den Tod. Und dafür sollte man genauso entlohnt werden wie für jede andere ärztliche Tätigkeit.
Just Sad Stories: Das birgt natürlich Risiken.
Dr. Preisig: Wer für seine Arbeit nicht bezahlt wird, der kann den Eindruck erwecken, etwas falsch zu machen. Wenn eine Freitodbegleitung unentgeltlich angeboten wird, wirkt das wie eine heimliche, schmuddelige Angelegenheit – als wäre es etwas, das man nicht hätte tun sollen oder dürfen.
Ein anderes Thema ist die Selbstbereicherung. Natürlich erleben wir, dass Menschen extrem dankbar sind, dass sie in Würde sterben dürfen – so dankbar, dass sie uns ein Legat hinterlassen wollen, also eine Spende von vielleicht 20.000 oder 50.000 Franken. Wenn ich so etwas als Privatperson annehme, dann ist das Selbstbereicherung.
Oder wenn ich argumentieren würde: Meine Arbeit ist viel belastender als die einer Hebamme – mit Tränen, Trauer, schweren Momenten – also müsste sie viel besser bezahlt werden. Auch das wäre ein falscher Weg. In der Schweiz gibt es dafür eine klare Regel: Wer in der Freitodbegleitung tätig ist, darf nicht mehr verdienen als in seinem ursprünglichen Beruf. Das ist fair – und verhindert Interessenkonflikte.
Just Sad Stories: Wenn da größere Summen im Spiel sind – besteht da wirklich nicht die Gefahr eines Interessenkonflikts?
Dr. Preisig: Natürlich. Ich bin in erster Linie Ärztin – aber auch Mensch. Und jeder Mensch nimmt gern Geld an. Deshalb haben wir bei LifeCircle ganz bewusst eine Stiftung gegründet: Eternal Spirit. Legate und Spenden sollen nicht an Einzelpersonen gehen, sondern in einen Fonds, der staatlich kontrolliert wird. Ich halte das für sehr wichtig: Jede Zahlung im Zusammenhang mit einer Freitodbegleitung sollte über ein überprüfbares Konto laufen – nicht auf ein Privatkonto.
Just Sad Stories: Gibt es einen weiteren Fall, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Dr. Preisig: Ein besonderes Beispiel ist die Paarbegleitung – das Extrem des Altersfreitods. Wir begleiteten einmal ein Ehepaar, das sich schon im Kindergarten kennengelernt hatte. Sie waren 80 und 81, waren seit Jahrzehnten Mitglieder bei EXIT (Freitodorganisation, Anm. des Verfassers). Sie hatten sich geschworen, eines Tages gemeinsam zu gehen – egal, wer zuerst krank wird. Als der Ehemann an Magenkrebs im Endstadium litt, wollte das Paar gemeinsam sterben. EXIT lehnte ab – sie sei noch zu gesund.
Sie kamen zu uns. Ich habe sie zu einem Psychiater geschickt. Er bestätigte, dass die Frau nicht depressiv war, sondern einen klaren, gefestigten Entschluss gefasst hatte. Die Familie – besonders die Töchter – wusste, dass die Mutter sich das Leben nehmen würde, sollte man sie nicht gemeinsam mit ihrem Mann sterben lassen. Und so begleitete ich beide.
Es war unglaublich eindrücklich. Wir hatten nur ein schmales Bett vorbereitet – und sie sagte lachend: „Wissen Sie, als wir jung waren, mussten wir auch mit einem 90-Zentimeter-Bett auskommen.“ So starben sie Hand in Hand. Die Dankbarkeit der Töchter – auch später bei der Abdankung – war tief bewegend. Solche Altersbilanzsuizide sind für mich die anspruchsvollsten Fälle. Denn ich empfinde das Leben – auch das Altwerden – als ein Geschenk. Wenn jemand noch nicht krank oder gebrechlich ist und trotzdem gehen möchte, fällt es mir persönlich deutlich schwerer, das Medikament zu übergeben.
Just Sad Stories: Das ist doch eine kaum zu tragende Verantwortung. Haben Sie das Gefühl, über Leben und Tod zu entscheiden?
Dr. Preisig: Das ist tatsächlich so – manchmal habe ich das Gefühl, ich spiele Gott. Ich entscheide: Du darfst, du darfst nicht. Aber – und das ist wichtig – wenn ich Nein sage, heißt das nicht, dass die Person nicht sterben kann. Sie kann sich jederzeit selbst das Leben nehmen.
Gerade deshalb finde ich es falsch, Menschen einfach abzulehnen und sich selbst zu überlassen – es sei denn, die Urteilsfähigkeit ist nicht gegeben. Wir haben viele Anfragen von Menschen mit Depressionen, Schizophrenie oder anderen psychischen Erkrankungen. Wenn kein Psychiater die Urteilsfähigkeit bestätigt, müssen wir ablehnen.
Ich weiß, dass einige dieser Menschen dann einen „harten“, unbegleiteten Suizid wählen. Das belastet mich – aber ich kann in solchen Fällen nicht anders handeln. Ich akzeptiere deshalb den Vorwurf des „Gottspielens“ nicht vollständig. Am Ende entscheidet nicht die Ärztin – es ist der Wunsch der sterbewilligen Person. Sie muss begründen, warum sie gehen will, und glaubhaft darlegen, dass es eine reife, reflektierte Entscheidung ist. Erst dann sage ich: Ja – oder Nein.